Gespräch mit Nicolas Philibert

Filmografie


 
Wie ist es Ihnen gelungen, in bestimmten Situationen die starke Intimität einzufangen, ohne dass sich die Kinder dagegen sperrten?
Ich habe es geschafft, ein Vertrauensverhältnis zu den Kindern aufzubauen, und die Kinder haben sehr schnell verstanden, daß ich nicht da bin, um sie zu beurteilen, oder in irgendeiner Form Druck auf sie auszuüben. Intimität kann man nur erzeugen, wenn Vertrauen da ist. Aber natürlich ist es schon so, daß ich in den etwas intimeren Szenen auch eine große Verantwortung hatte, denn es geht um das Privatleben von diesen Kindern, um ihr persönliches Leben. Sie werden damit aufwachsen, gefilmt worden zu sein. Mir war diese Verantwortung natürlich vollkommen bewußt.

Konflikte der Kinder untereinander oder zwischen Eltern und Kindern werden in dem Film nur gestreift. Es gibt am Ende aber ein Gespräch von Monsieur Lopez mit den beiden Jungs über mögliche Gewalt an der weiterführenden Schule. Mich würde interessieren, ob Gewalt an den Schulen in Frankreich ein Thema ist?
Ja, das ist es schon. Wenn im Fernsehen über Schule berichtet wird, dann immer nur über Dinge, die schief gehen. Es gibt im Französischen ein Sprichwort: „Man redet nie über die pünktlichen Züge". Zur Zeit gibt es in der französischen Gesellschaft eine sehr große Diskussion darüber, weil es Gewalt gibt, Gewalt existiert. Nicht an den Grundschulen, aber an den weiterführenden. Es gibt Erpressungen, es gibt Drogen. Das ist ein sehr großes Problem, das heiß diskutiert wird. Die aktuelle Regierung in Frankreich hat eher die Tendenz, das Budget für die Bildung herunterzuschrauben, und stattdessen das Budget für die Innere Sicherheit hochzuschrauben, und ich habe ein bißchen das Gefühl, daß man zur Zeit eher daran interessiert ist, zu bestrafen, als Geschehnissen vorzubeugen.

Wenn man den Film sieht, hat man den Eindruck, daß die Arbeit von Kinder und die Leistungen des Lehrers sehr geachtet werden. Wie ist das Ansehen von Lehrern in Frankreich?
In dem Punkt bin ich nicht allzu sehr qualifiziert und das, was ich sage, muss nicht unbedingt so stimmen. Aber die Rolle des Lehrers ist schon eine Art Mythos in Frankreich, weil Schule eben auch so ein Mythos ist. Es geht um die republikanische Tradition, es geht um die laizistische Schule. Im Moment kann man allerdings beobachten, das mittlerweile vielleicht Vertrauen fehlt, vor allem von Eltern den Lehrern gegenüber, wahrscheinlich ist das auch umgekehrt so. Ich kann aber wirklich nichts Genaueres darüber sagen - diese Krisen, die es zur Zeit gibt, betreffen nicht wirklich die Grundschule, sondern eher das, was in Frankreich collège heißt, also Kinder von 11-15 Jahren.

Wie reagierten die Besucher in den französichen Großstädten und Banlieues auf den Film?
Ich habe den Film begleitet. In Großstädten, in Kleinstädten, auch in Vorstädten, also den Banlieues. Beispielsweise haben ihn sehr sehr viele Jugendliche in den Banlieues von Paris gesehen. Für sie war der Film nicht im Geringsten exotisch. Sie haben auch keineswegs gedacht, daß mein Film nichts mit ihrer Realität zu tun hat, denn sie haben verstanden, worum es mir geht. Der Film über eine Dorfschule, das ist nur die Oberfläche, und wer nur die Oberfläche sieht, der verpaßt den eigentlichen Sinn dieses Filmes. Denn es geht darum, zu zeigen, wie Dinge vermittelt werden, wie man Sachen lernt im Leben. Das ist es, was hinter diesem Film steckt.

Entsteht ein solcher Film letztendlich am Schneidetisch, oder mit welchem Konzept beginnen Sie zu drehen?
Wenn ich anfange zu drehen, habe ich kein Konzept, sondern den Wunsch, etwas zu erzählen. Den Wunsch, eine Geschichte zu erzählen, die ich aber noch gar nicht kenne. Ich möchte nichts „illustrieren". Ich habe auch keine Message oder irgendwelche Ideen, die ich unbedingt an den Zuschauer bringen will, sondern es geht mir darum, mit großer Sensibilität eine Geschichte zu erzählen. Ich habe diese Schule nicht aus pädagogischen Kriterien ausgewählt. Dazu fehlt mir nicht nur die Kompetenz, es war auch überhaupt nicht mein Thema.
Als ich das Material sah, das ich gedreht hatte, fanden sich die Grundsäulen des Inhaltes von selbst. Ich wußte genau, welche Situationen ich unbedingt in dem Film haben wollte. Ein wenig ist dies, wie wenn man eine Mauer baut. Man hat zunächst die großen Steine, die das solide Gerüst bilden. Die kleineren baut man dann darum herum, um das Ganze zu einer runden Sache zu machen. Mir wurde schon bald nach Drehende klar, worum es in meiner Geschichte geht: Um die vielen Abschiede, die jeder von uns in der Kindheit erlebt, und die die weitere Entwicklung bedingen.

Welche Rolle spielten dabei die Wahl der Schule und des Lehrers?
Die Wahl dieser Schule hatte mit dem Film, mit dem Projekt dieses Filmes zu tun. Bei diesem Lehrer, den ich ausgewählt habe, geht es weder um einen Modellcharakter noch um eine Vorbildfunktion. Er ist ein Mann mit sehr vielen Qualitäten, aber auch natürlich mit Stärken und Schwächen. Es geht mir nicht darum, daß sich irgend jemand von ihm inspirieren läßt. Natürlich ist er jemand, der sehr aufmerksam ist. Aber ich habe in der Vorbereitung auf diesen Film über einhundert Schulen besucht, und ich habe unwahrscheinlich viele Lehrer getroffen, die auch sehr aufmerksam waren, die ihre Arbeit liebten und voll in ihrer Arbeit aufgegangen sind.
Wenn man in dem Film nicht sieht, daß die Kinder Musik haben, daß die Kinder Geographie haben, daß die Kinder Informatik haben, dann heißt das nicht, daß sie in diesen Fächern nicht unterrichtet werden. Die Kinder in dieser Klasse machen unwahrscheinlich viele Dinge, die ich nicht gefilmt habe oder die ich einfach nicht aufgenommen habe, als ich den Film geschnitten habe. Ich möchte es noch einmal betonen: Dieser Film ist kein Katalog, der darlegt, was man alles in der Schule lernt, sondern er handelt vielmehr davon, wie man Lernen vermittelt und wie man selber lernt. Wenn ich diesen Film in einer Großstadt gedreht hätte, hätte er ganz ähnliche Geschichten erzählt. Es wäre immer darum gegangen: wie vermittelt man Wissen, wie lernt man. Natürlich hätte der Film an der Oberfläche anders ausgesehen, die Grundfragen aber wären dieselben geblieben.
     
     
     
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