Interview mit Nicolas Philibert

Filmografie


 
Wie kam es zur Idee des Films?
Im Frühling 2000 fing ich an, über ein Projekt über das Leben auf dem Land nachzudenken. Ich begab mich auf Motivsuche und redete mit Landwirten, die kurz vor dem Bankrott standen. Aber während meiner Recherchen, setzte sich langsam die Idee durch, einen Film über eine Dorfschule zu machen, ohne dass ich genau wusste warum. Es stimmt schon, dass ich seit einiger Zeit Lust hatte, etwas zum Thema Lesen lernen zu machen. Diese Idee lag brach, wie so viele Dinge in einem, die darauf warten, dass sie eines Tages ein Zeichen geben ... Bei mir entsteht der Wunsch einen Film zu machen, oft durch eine Folge von Zufällen. Manchmal ist es nur ein Ton, ein Gesicht, eine Situation, die zum Auslöser wird. Manchmal ist es schon ein wenig mehr, aber sagen wir mal, es kommt nie durch eine abstrakte Erarbeitung, oder ein Buch oder eine didaktische Absicht. Auch wenn meine Filme Dokumentarfilme sind, so versuche ich doch immer, Geschichten zu erzählen, indem ich von den Orten ausgehe, in denen ich mich bewege. Ich denke, durch die narrative Form und den Aufbau unterscheiden sich meine Filme nicht so sehr von der Fiktion.

Welche Kriterien sollte die Schule, die Sie aufsuchten, erfüllen?
Viele Leute wissen es nicht, aber es gibt noch tausende Schulen in Frankreich, die nur aus einer Klasse bestehen. Ich fing also zunächst an, die Region zu bestimmen, das Zentralmassif, weil ich den Film in eine Region einbetten wollte mit mittleren Bergen, in denen das Klima schwierig und der Winter hart wäre. Außerdem wollte ich eine Klasse finden, in der nicht mehr als 10-12 Kinder waren, damit jedes Kind noch identifizierbar bliebe und eine ''Figur" im Film werden könnte. Ich wollte auch, dass der Altersunterschied so groß wie möglich ist, von der Vorschule bis zur 5. Klasse. Das hat mit dem gewissen Charme zu tun, den solche heterogenen, kleinen Gemeinschaften ausstrahlen. Wichtig war natürlich auch die besondere Rolle des Lehrers und seine Arbeit. Und wo ich nun schon mal auf der Suche war, brauchte ich auch eine Klasse mit viel Raum und Licht, weil ich auf keinen Fall künstliches Licht einsetzen wollte. Mir war ebenfalls klar, dass es kein Nachteil wäre, Kinder zu haben, die über eine gewisse Ausstrahlung verfügen. Natürlich war mir bewußt, dass vieles von der Wahl des Lehrers abhängen würde, aber ich war da sehr offen. Es durfte ein Mann oder eine Frau sein, jung oder nicht jung, erfahren oder unerfahren ... Das hätte sicherlich auch immer einen anderen Film ergeben, aber was diese Frage angeht, so setzte ich da keine Prioritäten.

Wie sind Sie vorgegangen, um die Klasse zu finden?
Meine Recherchen dauerten fünf Monate. Am Anfang ging ich sehr empirisch vor. Ich hatte einige Kontakte in der Region Lozère und dort fing ich an ... Es war schon Mitte Juni. Mir blieb also nur wenig Zeit vor Beginn der Großen Ferien. Langsam aber sicher gelang es mir doch, mehr und mehr Klassen zu besuchen, ich legte hunderte von Kilometern auf kleinen Straßen in den Cevennen zurück. Ich wurde überall gut aufgenommen, aber keine der Klassen sagte mir wirklich zu: in einigen gab es zu viele Kinder, in anderen nicht genug ... Jedenfalls kehrte ich Anfang Juli mit leeren Händen nach Paris zurück, aber voller Energie, weil das Projekt gut aufgenommen wurde. Danach ging ich rationeller vor und erweiterte mich auch geographisch. Ich stützte mich auf akademische Inspektionen in einigen Dutzend ''département". Es war kompliziert. Ich musste auch Widerstände brechen in den Sekretariaten, die Hierarchien überwinden, ein gewisses Mißtrauen besiegen. Hinzu kommt, dass die klassische Form der Ein­Klassen­Schule als überholt galt und neu definiert wurde. Heute gibt es eine ''pädagogische Aufteilung" alle Kinder der Vorschule müssen in ein Dorf, die ersten und zweiten Klassen in ein zweites Dorf und die dritten, vierten und fünften Klassen in ein drittes ... So um den 20. Oktober herum hatte ich 400 Schulen mit nur einer einzigen Klasse ausfindig gemacht, davon 300 kontaktiert und etwa 100 besucht. Aber keine dieser Klassen war die richtige, es gab immer etwas, was nicht ganz paßte ... An einem Ort wurde gerade eine Siedlung gebaut, die Arbeiten fanden genau gegenüber der Schule statt. Woanders gab es eine Situation wie bei den Marx Brothers: der Raum war winzig, die Kinder wie eingepfercht. Ich konnte mir nicht vorstellen dort mit einem, wenn auch reduziertem Team (einem Kameramann, einer Kameraassistentin, einem Toningenieur und mir) zu drehen. Man hätte die Tische aus der Klasse entfernen müssen, um genug Platz zum Drehen zu haben. In anderen Klassen war die Lehrerin schwanger und würde im März in den Urlaub gehen. Dramaturgisch war es interessant mitten im Jahr und im Film mit einer Vertreterin und neuen Figur konfrontiert zu werden. Aber die Schuladministration liess mich wissen, dass es nicht sicher sei, wer die Vertretung übernehmen würde. Sollte ich das Risiko eingehen, auf jemanden zu treffen, der sich vielleicht nicht filmen lassen wollte? Und dann kurz vor den Ferien zu Allerheiligen besuchte ich diese Schule in diesem Dorf des Puy­de­Dôme, mitten im Herz des Livradois Forez Saint­Ètienne sur Usson. Innerhalb einer Viertelstunde war ich mir sicher, gefunden zu haben, was ich suchte ...

Wieso erschien Ihnen diese Klasse besser geeignet, als die andern?
Abgesehen von dem Umstand, dass diese Klasse meine Kriterien erfüllte (nicht zu viele Schüler, ein großer Altersunterschied usw...), war ich sofort eingenommen von der Persönlichkeit des Lehrers. Hinter seiner leicht autoritären Haltung entdeckte ich sofort eine große Aufmerksamkeit für seine Schüler und einen sehr taktvollen und diskreten Menschen. Ich hatte immer eine kleine DV Kamera dabei, die ich jedesmal heraus holte, wenn ich glaubte, auf einem guten Weg zu sein. Als ich einige Aufnahmen seiner Klasse machte, verstand ich sehr schnell, dass es ihm nicht darum ging, sich von seiner besten Seite zu zeigen und dass er nicht versuchte, eine Rolle zu spielen. Es gab bei ihm keine Form von Demagogie oder Wichtigtuerei. Ich spürte, dass er sich mit seiner leicht traditionellen Art als eine starke Persönlichkeit durchsetzte, ohne im Film zu altmodisch zu wirken. Und dann gab es natürlich diese Kinder, mit ihren angespannten Gesichtern und dem Wunsch, vorwärts zu kommen, diese Gesichter die mal Unruhe, mal Erleichterung ausdrückten, oft komisch, lachend, manchmal auch besorgt, verschlossen und nicht zu entschlüsseln.

War der Lehrer denn leicht zu überzeugen?
Wie viele andere vor ihm, hat er sich zunächst gewundert, dass man zu diesem heiklen Thema einen Kinofilm machen könne. Der Dokumentarfilm wird immer noch mit dem Fernsehen, Magazinen und der Reportage gleichgesetzt. Ich habe meine Vorgehensweise dargelegt und präzisiert, dass diese jeder didaktischen Perspektive den Rücken zukehrt. Mir ging es nicht darum, eine vorgefasste Meinung mit Bildern zu illustrieren. Auch ging es mir nicht um den pittoresken, oder nostalgischen Aspekt (Ach die Landflucht! Ach diese Schulen, die langsam aussterben.). Mein Wunsch war es, seiner Arbeit mit den Kindern so nah wie möglich zu kommen, zu verfolgen wie sich die Kinder entwickeln, damit der Zuschauer ihre Erfolge aber auch Enttäuschungen miterlebt. Er selbst hat mir immer wieder von seiner Klasse erzählt, seiner Verbundenheit mit dieser kleinen ''Truppe", der er nach 35 Jahren Erfahrung immer noch seine Arbeitsmethoden vermittelte. Dabei gab Georges Lopez zu, dass er sie selber als etwas klassisch empfindet und schlug mir immer wieder vor, doch jemanden auszuwählen, der etwas moderner sei. Ich versuchte ihn dann zu beruhigen, ihm klar zu machen, dass ich nun nicht mit der Lupe studieren würde, wie er den Kindern das Bruchrechnen, oder das Präteritum beibringt. Natürlich würde er im Mittelpunkt des Films stehen, der Dreh­ und Angelpunkt sein, immer unter Beobachtung der Kamera. Was man von ihm behalten würde, wäre ein Gesamteindruck, die Umrisse einer Persönlichkeit. Es dauerte ein wenig aber langsam fühlte er sich dann sicher. Im Alter von 55 Jahren blieben ihm noch 1 1/2 Jahre bis zur Rente. Das war für ihn ja auch die Möglichkeit, durch diese filmische Erfahrung einen schönen Schlusspunkt zu setzen, bevor er vielleicht noch mal etwas Anderes beginnen würde. Ich bot ihm an, einige Tage darüber nachzudenken. 48 Stunden später gab er mir sein Einverständnis.


Und wie reagierten die Eltern?
Sie waren sofort einverstanden, ein Grund war ihr Respekt und ihr Vertrauen zu diesem Lehrer, der seit 20 Jahren unter ihnen lebt. Allerdings sagte ich ihnen sofort, dass ihre Kinder nicht alle die gleiche Präsenz im Film haben würden, dass man sie nicht immer von ihrer besten Seite sehen würde, aber ohne das gäbe es keinen Film, keine Geschichte. Ich sagte ihnen auch, dass beim Schnitt Stunden und Stunden verloren gingen, bestimmt auch schöne Szenen, weil ein geschnittener Film ja kein ''Best of`" sein kann, sondern eine Konstruktion, die ihren eigenen Gesetzen und denen des Regisseurs gehorcht. Um von vornherein alle Zweifel auszuschließen machte ich den Eltern klar, meine Auswahl und mein Film würden sehr subjektiv werden. Was die Kinder anging, weil wir ja auch deren Einverständnis brauchten, so erwähnte ich, sie wären bestimmt sehr stolz in diesem Film aufzutreten, aber um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass sie immer verstünden, um was es ginge.


Wenn man sich den Film anschaut, hat man das Gefühl, dass die Kinder sehr schnell Ihre Anwesenheit vergessen ...
Am ersten Drehtag nahmen wir uns die Zeit, ihnen detailgenau zu erklären, wozu all unsere Gerätschaften dienten: die Angel, das Tonaufnahmegerät. Das Stativ, die Objektive ... alles kam dran. Jeder durfte sein Auge an den Sucher der Kamera halten, mit dem Zoom spielen, sich die Kopfhörer aufsetzen. Damit war ihre Neugier teilweise er­ schöpft und ich erklärte ihnen die Spielregeln. Wir hatten ihnen gezeigt, wie wir arbeiten würden und von nun an würde es wieder das Gegenteil sein. Der Lehrer hatte seine Klasse wieder unter Kontrolle, die Kinder lernten und wir drehten. Innerhalb von drei Tagen gehörten wir zum Mobiliar. Natürlich blieben wir vom ersten bis zum letzten Tag so diskret wie möglich, um nicht das Eigenleben in dieser Gruppe zu bremsen. Und dennoch konnten wir uns nicht in Luft auflösen. Diese Idee war absurd. Wir waren ständig zu viert in dieser Klasse. Im übrigen störte es mich nicht, dass ein Kind ab und zu mal in die Kamera schaute. Ich passte allerdings sehr darauf auf, dass wir immer eine ''wohlwollende Neutralität" bewahrten. Sonst wäre alles den Bach hinunter gegangen. Eines meiner Ziele war es ja, zu zeigen, wie es dem Lehrer gelänge, gleichzeitig 13 Schüler unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Klassenstufen zu beschäftigen. Es war ausgeschlossen, irgend jemandem in der Klasse zu helfen, auch wenn er um Hilfe bat. Es verbot sich auch zu Lachen, wenn einer den Klassenclown spielte oder sich auf andere Spielchen der Schüler einzulassen. Das war nicht immer leicht, aber jeder hat seine Rolle. Für jeden Film muss man die richtige Distanz finden. Was sich auf dem Filmstreifen befindet, ist eine Reflexion dieser Einstellung. Natürlich, in den Pausen, wenn wir nicht drehten, wurden wir zu Kumpeln. Aber sobald der Unterricht wieder losging und mit ihm die Dreharbeiten war wieder Schluss mit lustig. Die Kinder haben diesen Unterschied sehr schnell verstanden.

Wie lange blieben Sie in der Klasse und auf welche Schwierigkeiten sind Sie gestossen?
Die Dreharbeiten erstreckten sich über 10 Wochen verteilt von Dezember 2000 bis Juni 2001 wir drehten 60 Stunden Material. Technisch war es kompliziert. Julien Cloquet war der einzige Toningenieur. Sein Terrain war der gesamte Klassenraum. Man wusste ja nie im voraus, wer sich melden würde. Auch was das Bild anging, gab es mehrere Probleme. Wir mussten ständig aufpassen, dass wir uns nicht in den Fenstern und auf der Tafel spiegelten. Unsere Entscheidung, auf künstliches Licht zu verzichten, bedeutete auch dass wir nur eine sehr geringe Tiefenschärfe hatten. Fehler waren nicht erlaubt. Aber es sind solche Drehbedingungen, unter denen jeder das Beste gibt.

Ihr Film erweckt den Eindruck einer grossen Ruhe. Fanden Sie Ihre Schule nicht manchmal zu idyllisch?
Es stimmt: dieser Lehrer, das Klima von Respekt, dass er in seiner Klasse schafft, wirft ein schönes Bild auf seinen Beruf. Aber ich habe nicht versucht, daraus eine Art Modell zu machen. Es ging nicht darum, dass sich jeder daran inspirieren müsse. Während meiner Vorbereitungen zum Film traf ich auch ganz andere Lehrer. Jeder hatte seinen eigenen Stil, seine Methoden und kleinen Rezepte, aber alle gaben mir das Gefühl, mit Leib und Seele ihren Beruf auszuüben. Idyllisch? Für mich ist es ein sehr offener Film, der Raum für Interpretationen lässt, vor allem, was die eigenen Kindheitserinnerungen angeht. Was mich angeht, ich sehe sogar etwas düsteres, eine latente Gewalt in dem Film, auch wenn sie unterdrückt bleibt. Bevor ich diesen Film drehte, hatte ich wohl vergessen, wie schwer es ist, zu lernen und aufzuwachsen. Dieses Eintauchen in das Schulleben zwang mich wieder, mich zu erinnern. Das ist wahrscheinlich das eigentliche Thema des Films.
     
     
     
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